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Wir Posthumans sind untrennbar mit Technologie verflochten.

 

Dieser Artikel ist Teil der Gesprächsreihe "Digitale Interaktion" in der Viktoria Pammer-Schindler, Mia Bangerl und Franziska Gürtl Gespräche mit Wissenschaftler*innen aus verschiedensten Disziplinen führen, zum Beispiel aus der Psychologie, Philosophie, Biologie. Dabei fragen sie nach Perspektiven, Theorien und Fragestellungen aus der jeweiligen Disziplin und dem Forschungsschwerpunkt der Gesprächspartner*innen auf das Thema "Digitale Interaktion". Im online Standard wurde eine gekürzte Version des Gesprächs veröffentlicht. Alle Kurz- und Langformen der Gesprächsreihe sind hier gelistet.

 

Das hier zusammengefasste Gespräch wurde mit Kathrin Otrel-Cass geführt. Kathrin Otrel-Cass ist Professorin am Institut für Bildungsforschung und Pädagog*innenbildung an der Universität Graz, wo sie den Arbeitsbereich Lehre/Lernen und digitale Transformation leitet.

 

Wie ist Dein Zugang zum Thema "Digitale Interaktion" - was ist Dein Hintergrund, und wo liegen die Schwerpunkte in Deiner Forschung?

 

Mein Forschungsinteresse liegt in den Auswirkungen der Digitalität im Unterricht. Methodisch arbeite ich ethnographisch, lege also den Fokus darauf, Personen zu beobachten wie sie mit Technologie interagieren, oder wie sie miteinander unter Verwendung von Technologie interagieren. In meinen Anfängen als Jungforscherin habe ich wahrscheinlich noch mehr Fokus auf die Hardware und den Einsatz der Tools gelegt. Mittlerweile interessieren mich vor allem die Prozesse - also zum Beispiel die Interaktionen mit Digitalität, wie sie erlebt wird, wie sie verstanden wird.

Generell bin ich natürlich an der Technologie interessiert und neugierig, welche tollen Tools und Einsatzmöglichkeiten es gibt. Im Lauf der Zeit bin ich aber immer kritischer geworden, was die Digitalisierung mit uns, und vor allem natürlich mit den Kindern und Jugendlichen macht. So bin ich mittlerweile theoretisch im Posthumanismus angekommen. Das heißt, dass ich Mensch und Technologie als miteinander verflochten sehe, als ein Amalgam. Wenn wir verstehen wollen wie sich die Digitalisierung auf unser Leben auswirkt, hilft es uns, den Menschen nicht als abgehoben zu sehen, sondern als Teil des Ganzen. Dann versteht man auch besser warum wir es schwer finden uns von der digitalisierten Welt zu trennen. Ein Beispiel sind die Auswirkungen von Smartphones und ihren Apps im Leben junger Leute und der Einsatz dieser Technologie im Unterricht. Der Umgang von Kindern und Jugendlichen mit Smartphone-Technologie muss zunächst damit beginnen, dass wir akzeptieren, dass diese Technologie fest im Alltag junger Menschen verankert ist. Dann kann man sich damit auseinandersetzen wie Smartphones das Verhalten bestimmen und beeinflussen, zum Beispiel, wenn sie Notifications hören, und darauf auch spätnachts antworten, wollen, weil: Es könnte ja ein Schulkollege, eine Schulkollegin sein, die oder der Hilfe bei der Hausaufgabe braucht. Und sie wollen natürlich da sein für ihre Peers, und sie wollen mit dabei sein.

Ein zweites Beispiel hat mit der Veränderung unserer verkörperten Präsenz zu tun: Betrachten wir den Online Unterricht. Was bedeutet das, wenn ich mit meinen Studierenden virtuell kommuniziere? Manchmal sehe ich die Studierenden per Video, aber viel öfter eigentlich nicht. Das ist auf der einen Seite sehr vergeistigt, ich nehme ja die Körper der anderen fast gar nicht wahr. Auf der anderen Seite sieht man sich ständig selbst in den meisten Videokonferenz-Technologien. In Präsenz sehen wir uns selbst nicht im Gespräch; aber nun gibt es in diesem virtuellen Raum viel mehr Bewusstsein über den eigenen Körper und wie dieser eventuell interpretiert werden könnte als üblicherweise im physischen Raum. Die Technologie ist als Akteur in diesem Arrangement mittendrin: Es wird was mit uns gemacht, und wir machen auch etwas mit der Technik, wir formen sie ja auch. Wir entscheiden, wie wir sie verwenden, wir sind auch Designer*innen. Die Studierenden schalten zum Beispiel ihre Kameras aus, und dann organisiere ich als Lehrende vielleicht Breakout-Rooms für maximal drei Personen und bitte die Leute ihre Kameras dort einzuschalten.

 

Das sind zwei sehr interessante Punkte: Der eine ist das Interesse am Prozess, also das Augenmerk liegt darauf, erst einmal gut zu beobachten, wie Menschen in Gegenwart oder unter Zuhilfenahme von Technologie agieren und interagieren. Der zweite ist, wie trennbar oder eher untrennbar ist diese Verbindung zwischen Menschen und Technologie?

Nachfragen möchte ich zu dem Punkt, wo Du die Technologie als "Akteur" beschreibst. Wer agiert denn: Die Technologie-Entwickler*innen, die Nutzer*innen oder die Technologie selber?

 

Es agieren erst einmal die Technologie-Entwickler*innen, die überlegen: Wie könnten meine User*innen diese Technologie verwenden, welche Vorgänge oder Wege programmiere ich mit ein? Und es agieren erst einmal die User*innen, die überlegen und sich entscheiden: Wie verwende ich diese Technologie? Nur ist es mittlerweile ja so, dass es nicht nur einen oder eine Entwickler*in gibt, sondern viele. Technologien werden über einen längeren Zeitraum entwickelt. Und dann taucht nach einiger Zeit ein Software-Update auf, und die Software sieht anders aus, oder verhält sich etwas anders als zuvor. Zusätzlich wirken viele Technologien proaktiv auf uns, zum Beispiel durch Notifications. Also ohne dass wir als User*innen ein menschliches Gegenüber sehen, tut diese Technologie etwas. Technologie hat also auch Agency, in dem Sinn, dass sie auch selber Entscheidungen trifft, bis zu einem gewissen Punkt.

 

Bei regelbasierten Systemen, aber auch bei selbstlernenden Systemen sind natürlich die Entscheidungsstrukturen und auch die Lern-Mechanismen vorgegeben. Aber man könnte argumentieren, dass diese beim Menschen im Grunde auch vorgegeben sind.

 

Genau. Es stellt sich also die Frage: Inwieweit ist dieses Agieren der Technologie wirklich ein reflektierendes Agieren? Ist das schon Bewusstsein? Bewusstsein hat etwas mit Reflexion zu tun. Bis vor kurzem dachten wir als Menschen natürlich, nur wir Menschen haben Bewusstsein. Mittlerweile gibt es Philosophen, die sagen, Pflanzen haben Bewusstsein; Tiere sowieso. Bewusstsein verstehen wir jetzt also schon nicht mehr als exklusiv dem Menschen vorbehalten.

 

Was sind nun die Konsequenzen und Herausforderungen dieser Digitalisierung und Deiner Diagnose der Verflechtung Mensch-Technologie, und der zunehmenden Agency von Technologie?

 

Die allergrößte Herausforderung bei diesen Entwicklungen - damit meine ich jetzt die Digitalisierung im Ganzen - ist die Schnelligkeit, die Beschleunigung. Das ist einerseits das Fantastische an der Digitalisierung. Digitalisierung ermöglicht, Dinge unglaublich schnell zu kommunizieren und zu prozessieren. Diese Schnelligkeit lieben wir, ganz schnell eine Antwort zu bekommen, schnell als Experte dazustehen. Das ist wie eine Verführung unseres Selbst. Nur hat die Schnelligkeit Konsequenzen. Wir wissen nicht mehr genau, woher die Informationen die wir erhalten kommen, und wem oder was man noch vertrauen kann.

In meiner Arbeit sehe ich zum Beispiel, dass junge Menschen sich durchaus bewusst sind, wie enorm die ständig verfügbare Technologie, zum Beispiel das Smartphone, sich auf ihr Leben und ihr Wohlbefinden auswirkt. Scheinbar simple Dinge, wie eben diese Notifications, die man ununterbrochen hört, sind sensorische Nachrichten, die in ihnen das permanente Gefühl hinterlassen: Du musst nachsehen, wer hat sich gemeldet, was ist passiert? Es ist nicht einmal unbedingt so, dass die Jugendlichen das Gefühl haben, Action zu verpassen, eher dass der Eindruck entstehen könnte, sie kümmern sich nicht um ihre Freund*innen, um ihre Community. Es gibt also einen ganz starken Druck in der Peergroup. Die Jugendlichen sind auch reflektiert, sie nehmen das teilweise gut wahr, dass das so ist, und dass sie unter diesem Druck sind. Sie sehen auch, dass sie zum Beispiel nachts nicht ausreichend schlafen. Allein können sie diesem Druck aber auch nicht entkommen. Man muss daher diejenigen in die Verantwortung nehmen, die wohlwissentlich aus diesem Verhalten Profit ziehen; und diejenigen in Verantwortung nehmen, die auch eine Fürsorgepflicht haben: Eltern, Lehrer*innen, Gesetzgeber, Technologiekonzerne - uns, die ganze Gesellschaft.

Gleichzeitig ist natürlich die Welt, in der ich aufgewachsen bin, aber auch die Welt der jetzigen Lehramtsstudent*innen, eine ganz andere als die der jetzigen Kinder und Jugendlichen. Natürlich müssen also die Kinder und Jugendlichen lernen, auf gute Weise mit neuen Technologien umzugehen. Dadurch dass wir älteren ihre technologisierte, digitale Welt aber gar nicht so gut kennen, geht das glaube ich nur, wenn wir älteren mit Kindern und Jugendlichen darüber sprechen, und erst einmal zuhören. Es braucht also schon Erwachsene, die Gesellschaft, die hier einschreitet, aber nicht so autoritär im Sinn von darüberstehen und automatisch wissen, wie es richtig ist, sondern es muss ein gemeinsames Gespräch geben.

 

Ein Interesse von uns ist es auch, unterschiedliche methodische Zugänge zu verstehen. Ich verstehe diesbezüglich, dass sich die Erkenntnis: "Wir müssen erst einmal verstehen, wie die neuen Technologien auf uns wirken, wie menschliches Handeln denn eigentlich ist, in Anwesenheit neuer Technologie." methodisch niederschlägt in Deinem Fokus auf ethnographischen Methoden.

 

Ja genau, das ist meine ethnographische Zugangsweise, das Beobachten. Dazu gehört für mich aber auch das Anthropologische. Das heißt, dass in meiner Forschung nicht nur das Beschreiben einer einzigen konkreten Situation wichtig ist, sondern das Zusammenfassen, das Herauskristallisieren des Wesentlichen aus vielen Beobachtungen. Der anthropologische Zugang ist, repräsentative Eigenheiten einer Kultur zu identifizieren. Vermehrt bin ich auch interessiert an einem postqualitativen Ansatz. Was ich damit meine: Im klassischen qualitativen Ansatz würde ich eine oder mehrere Situationen beobachten, analysieren und interpretieren. Das ist dann das Ergebnis meiner Forschung. Ich finde es aber nicht mehr ausreichend, wenn nur ich mir Gedanken mache und diese dann als richtig und wahr nach außen kommuniziere. Meine Perspektiven und Interpretationen werden natürlich stark durch meine eigene Forschungsbiografie geprägt. Alles, was ich sehe und verstehe, hat seinen Platz, aber ich finde, ich muss auch das, was ich sehe, wieder mit den Beobachteten, also den Jugendlichen und den Lehrer*innen in meinem Fall, wieder abgleichen. Ich muss fragen: Ist das tatsächlich so? Wie seht ihr das? Was davon könnt und wollt ihr aufnehmen und wie? Das subjektive Erfahren ist sehr wertvoll: Wie erfahren und erleben sich Leute in der digitalen Welt? Die Limitation des Beobachtens ist ja, dass ich basierend auf meinen eigenen Erlebnissen und meinem Wissen, Erklärungen zusammenstelle für das, was ich beobachte. Das muss aber nicht unbedingt gänzlich stimmen. Da kann bei Vergleichen meines Verständnisses mit dem der (beobachteten) Teilnehmer*innen eine Korrektur entstehen. Es gibt keinen objektiven Beobachter! In der Wissenschaft ist man ja generell besessen vom Streben nach Objektivität, aber wenn wir ehrlich sind, erzielen wir sie nicht wirklich. Auch Wissenschafter*innen sind Menschen und können daher nur subjektiv arbeiten.

 

Und zusätzlich sind wir auch noch mit neuen Technologien konfrontiert, die wir in ihrem Wesen und ihrer Bedeutung für uns erst einmal erfassen müssen: Wie geht es uns mit diesen Technologien, wie gehen wir gut damit um, wie "sind" denn diese Technologien eigentlich? Damit finde ich, schließt sich auch der Kreis sehr schön, zwischen Deinem methodischen Zugang, Deinem Forschungsinteresse an der Digitalisierung, und Deinem, ja, eigentlich Aufruf, die Digitalisierung erst einmal zu verstehen, im Gespräch zu reflektieren, und erst basierend auf diesem Verständnis neue, bessere Wege zu finden, wie man digitale Werkzeuge verwenden kann oder neue, bessere digitale Werkzeuge zu erfinden. Insgesamt sehe ich hier auch ein Aufzeigen von Möglichkeiten und Aufruf zum Gestalten von Technologie und wie wir sie verwenden, und zur Verantwortungsübernahme. Danke für diese Perspektiven!

Zum Abschluss noch folgende Frage: Welches Buch kannst Du uns zum Weiterlesen empfehlen?

 

Ich empfehle zwei, weil der Themenbereich ja riesig ist!

Erstens: Hayles, Katherine (2017): "Unthought. The power of the cognitive nonconscious". Ich empfehle dieses Buch erstens weil Frau Hayles sehr gut schreibt und schön zu lesen ist, und zweitens nimmt Frau Hayles die Leser*innen mit auf eine faszinierende Gedankenreise. Sie befasst sich mit Erkenntnissen aus den Neurowissenschaften, der Biologie, Philosophie und Psychologie und befasst sich mit Kognition, die nach Hayles nicht nur auf unbewusste Prozesse beim Menschen anwendbar ist, sondern auf alle Lebensformen, einschließlich einzelliger Organismen und Pflanzen. Sie zeigt auch, dass Kognition in den ausgeklügelten informationsverarbeitenden technischen Systemen operiert: Sie beschreibt, wenn Mensch und kognitive technische Systeme miteinander interagieren, bilden sie "kognitive Assemblages", ein spannender Gedanke.

Zweitens: Braidotti, Rosi (2013): "The Posthuman" finde ich spannend, weil Frau Braidotti im Zentrum nicht mehr die Figur des Menschen sieht, sondern sich für Solidarität der Arten untereinander einsetzt. Das heißt, für sie ist die Teilhabe an einem produktiven Lebensprozess mehr als bloß menschlich.

 

Danke für dieses wunderbare Gespräch!

 

Das Gespräch führten Viktoria Pammer-Schindler und Mia Bangerl.

 

Obige Gesprächszusammenfassung verfasst und redigiert haben: Viktoria Pammer-Schindler, Mia Bangerl, Franziska Gürtl, Bernhard Wieser, und Kathrin Otrel-Cass.