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Das Ziel ist, in der Welt zu sein.

Dieser Artikel ist Teil der Gesprächsreihe "Digitale Interaktion" in der Viktoria Pammer-Schindler, Mia Bangerl und Franziska Gürtl Gespräche mit Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus verschiedensten Disziplinen führen, zum Beispiel aus der Psychologie, Philosophie, Biologie. Dabei fragen sie nach Perspektiven, Theorien und Fragestellungen aus der jeweiligen Disziplin und dem Forschungsschwerpunkt der Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen auf das Thema "Digitale Interaktion". Eine gekürzte Version des Gesprächs wurde als online Blog auf derStandard.at veröffentlicht.. Alle Kurz- und Langformen der Gesprächsreihe sind hier gelistet.

Dieser Text fasst ein Gespräch mit Guilherme Wood, geführt von Viktoria Pammer-Schindler und Mia Bangerl, zusammen. Guilherme Wood ist Professor am Institut für Psychologie an der Universität Graz, wo er den Arbeitsbereich Neuropsychologie - Neuroimaging leitet.

 

Wie ist Dein Zugang zum Thema "Digitale Interaktion" - was ist Dein Hintergrund, und wo liegen die Schwerpunkte in Deiner Forschung?

 

Ich bin Psychologe mit einer Promotion in Neuropsychologie. Neuropsychologie ist ein Teilgebiet der Psychologie, das sich mit den Homologien zwischen Gehirnaktivität und kognitiver Aktivität befasst. In der Neuropsychologie interessiert man sich also dafür, welche neuronalen, chemischen und physikalischen Aktivitäten im Gehirn, die man mit entsprechenden Geräten auch messen kann, mit Denk-Aktivitäten zusammenhängen, die wir konzeptionell kennen, wie zum Beispiel sprechen, gehen, etc. In meiner eigenen Forschung beschäftige ich mich damit, Diagnostik und Interventionen zu entwickeln für Patienten und Patientinnen mit neurologischen, psychiatrischen Erkrankungen. Ein Schwerpunkt liegt auf Neurofeedback. Dabei präsentiert man einem Menschen in leicht verständlicher Form seine oder ihre Gehirnaktivität, die man gerade trainieren will. Ein Beispiel ist, wie aufmerksam oder wie entspannt man ist. Wenn das in die richtige Richtung geht, kann man diesen Zustand behalten oder verstärken; wenn das in die falsche Richtung geht, dann muss man etwas anders machen. Diese Technik ist zur Förderung des Lernens sehr effizient.

 

Wenn Du unsere Beobachtung hörst, dass die meisten Leute das Interagieren mit anderen Menschen im Digitalen ganz anders empfinden als das Interagieren mit anderen Menschen in der physischen Realität, welche Theorien oder Konzepte hättest Du da vor Deinem Hintergrund, das zu verstehen? Warum ist das so anders?

 

Die Qualität der Stimulation ist eine andere. Es gibt weniger soziale und perzeptuelle Hinweise, es fehlen viele Aspekte der non-verbalen Interaktion, vom Kontext. Menschen kommunizieren sehr viel über Mimik, aber auch Körperhaltung und Gestik. Das alles wird gar nicht oder nur zeitversetzt übertragen; die Information über unsere Gesprächspartner*innen ist grundsätzlich unvollständig.

Zusätzlich ist in Telekonferenzen und in allen video-basierten Interaktionsumgebungen die Größe der Menschen anders als im echten Leben: Die Menschen erscheinen auf einem kleinen Bildschirm unnatürlich klein und nur zweidimensional; die Gesprächspartner müssen sich auf einen sehr kleinen Bereich des Gesichtsfelds fokussieren. Gleichzeitig ist dieser kleine Bereich auch unvollständig in Bezug auf den Hintergrund der Personen, mit denen man spricht. Man sieht nur einen sehr kleinen Ausschnitt der Umwelt der Gesprächspartner*innen, man sieht meistens nur einen kleinen Rahmen um ihr Gesicht. Das ist, wie wenn man Leute durch einen Tunnel beobachten würde. Das ist unangenehm. In Horrorfilmen wird diese Darstellungsform als Stilmittel verwendet, wo man ahnt, dass außerhalb des Blickfeldes noch etwas passiert, und in Horrorfilmen ist das ja immer etwas Schreckliches. Die Unvollständigkeit der Stimulation führt zum ständigen überlegen, erfordert geistige Ressourcen, das ist anstrengend.

 

Das könnte die Wahrnehmung erklären, dass digitale Interaktion ermüdender ist als die physische Interaktion, dadurch, dass ich diese unvollständige Information ständig ergänze. Das läuft ja wahrscheinlich unbewusst ab, ich kann also gar nicht anders als leicht beunruhigt zu sein. Zusätzlich habe ich in vielen Videokonferenzen ja nicht nur ein Gegenüber, sondern zehn, oder mehrere. Jede*r hat einen mir unbekannten Hintergrund, und ich muss zehnmal überlegen, was eigentlich im Hintergrund passiert.

 

Genau. Dazu kommt, dass wir in einer digitalen Interaktion einfach insgesamt weniger sehen, was diese Situation besonders und damit erinnerungs-wert machen würde. Diese bunte Scheibe aus Bügelperlen zum Beispiel (Guilherme Wood hält eine kleine, bunte Scheibe hoch) ist unwichtig für dieses Gespräch, macht aber die Gesamtsituation besonders und einprägsamer. Jedes Element, das man sich merken kann, weil es einigermaßen interessant ist oder einmalig, trägt dazu bei, die Repräsentation dieser Situation zu bereichern. Dadurch wird es dann einfacher, auf die Inhalte zurück zu kommen, die Situation zu beschreiben, zu begreifen und den tieferen Sinn zu extrahieren. Sinn bedeutet dabei letztendlich auch, die übergeordneten Ziele, die tägliche Aktivitäten mit dem umfassenderen Kontext des ganzen Lebens zu verbinden. Zum Beispiel, wenn man gemeinsam einen Kaffee trinken geht, hat man ja auch nicht vor, nur einen Kaffee runterzuschlucken und das zufällig zu zweit zu machen, sondern man hat auch das Ziel, sich zu unterhalten und den sozialen Kontakt zu verstärken. Man hat also immer auf vielen Ebenen Ziele, und je prägnanter eine Begegnung ist, desto stärker wirkt sie auf die Zielsetzung und desto stärker ist sie integriert mit unserem Wissen, desto stärker wirkt sie auf uns als Ganzes, inklusive Gehirn. Und wenn jetzt eine Situation wenig Stimulation, wenig Besonderes liefert, auch wenn dabei sehr viel Wertvolles dabei war, gibt es weniger Anknüpfungspunkte. Es ist einfach schwieriger, sich an die Situation zu erinnern, von der Situation geprägt zu werden.

 

Ich bekomme also in der digitalen Interaktion mit Anderen nur unvollständige Information, die ich an allen Ecken und Enden ergänzen muss. Gleichzeitig bekomme ich sehr wenig Stimulation die mir helfen würde, mich an die Interaktion zu erinnern und die gesamte Interaktion sowie ihre Inhalte aufzunehmen. Trotzdem muss ich diese wenige Information zu einem sinnvollen kohärenten Ganzen verbinden. Das erfordert eigentlich sehr viel Aufmerksamkeit und geistige Energie. Und das macht müde.

Wie viel davon, dass uns das so sehr müde macht, liegt intrinsisch an unserem Gehirn, in dem Sinn: Unser Gehirn hat sich über einen sehr langen Zeitraum, durch Evolution, so entwickelt? Und wie viel davon haben wir im Laufe eines einzigen menschlichen Lebens gelernt? Also wenn jetzt die heutigen Babys, Kinder und Jugendlichen so aufwachsen, dass sie hauptsächlich digital miteinander interagieren, oder auch nur vermehrt, lernen sie, dass das normal ist und ist das in Folge weniger ermüdend für sie?

 

Die digitale Interaktion ist ermüdend wegen all dem, was wir vorher diskutiert haben: Man muss Unvollständiges ergänzen, man hat weniger Anhaltspunkte, die einem helfen, die Interaktion zu integrieren. Es kommt aber noch ein Aspekt dazu. Man beansprucht bei digitalen Interaktionen immer die selektive Aufmerksamkeit, weil die Interaktion auf so kleine Regionen begrenzt ist. Man muss auf einen Laptop-Bildschirm fokussieren, oder auf ein Smartphone-Display, nicht auf den ganzen Raum rund um einen herum. Das ist ein sehr spezifischer Modus der Wahrnehmung. Es kostet viel Energie, sich da reinzubringen, man muss ja die ganze Umgebung ausblenden. In der natürlichen Umgebung, evolutionär betrachtet, war das nie eine gute Idee. Damals war es nicht ungefährlich, sich von der Umgebung abzukoppeln. Das geht nur, wenn man 100-prozentig in Sicherheit ist. Das menschliche Gehirn hat sich also eher so entwickelt, dass das nicht der Normalzustand ist, dass man sich nur auf einen ganz kleinen Teil des Gesichtsfelds konzentriert, und deswegen ermüdet diese punktgenaue Konzentration. Wenn man sich jetzt oft auf so kleine Ausschnitte aus der Realität, nur auf einen Bildschirm, konzentriert, lernt man das natürlich auch, den vorhandenen Raum "zu vergessen", sich also absichtlich abzulenken von allem, was rundherum passiert. Dann ist man ständig abgelenkt. Man sieht das auch heutzutage, viele gehen mit Stöpseln in den Ohren herum und hören etwas. Das Gehörte kommt aber aus einem anderen Raum, als der Raum in dem man sich bewegt. In diesem Fall ist das Gehörte das "Kleine" auf das man in diesem Fall fokussiert, anstatt das Ganze wahrzunehmen.

 

Nach diesen Ausführungen denke ich, dass das Problem an der digitalen Interaktion ist, dass sie von uns verlangt, uns sehr selektiv zu fokussieren, und dass sich dieses Problem daraus ergibt, wie wir uns als Menschen über einen langen Zeitraum entwickelt haben. Wir können also nicht so einfach im Lauf eines einzigen Menschenlebens lernen, dass das selektive Wahrnehmen über einen langen Zeitraum angenehm und nicht ermüdend ist. Man kann sich zwar angewöhnen, das als "normal" zu empfinden, das tut uns aber deswegen dennoch nicht unbedingt gut.

 

Wir könnten den Punkt erreichen, an dem es sehr ungewohnt ist, Unbekannte im echten Leben anzusprechen. Wenn wir Interaktion in der physischen Realität nicht mehr gewohnt sind, wird es schwieriger, drei-dimensionale Menschen zu deuten und sie als Ganzes wahrzunehmen. Wir trainieren uns möglicherweise die Geduld ab, anderen Menschen zuzuhören und bauen die Fähigkeit zur Gegenseitigkeit und zur Solidarität ab.

Gleichzeitig gibt es aktuell großes Interesse an "Mindfulness". Darunter versteht man eine umfassende Achtsamkeit, die nicht auf einen kleinen Ausschnitt der Welt gerichtet ist. Auch dafür gibt es mittlerweile technische Hilfsmittel, man könnte zum Beispiel Neurofeedback verwenden, um Mindfulness zu erhöhen. Das funktioniert. Andererseits könnte man sich auch einfach einen angenehmen Tag machen, weniger elektronische Geräte verwenden und spazieren gehen, oder ein gutes Buch lesen. Auch das ist Mindfulness.

 

Das schlägt die Brücke zu Deiner eigenen Forschung. Was sind da Fragen die Dich interessieren, inwiefern sind digitale Technologien da sinnvoll?

 

In meiner Forschung arbeite ich mit Patienten, die neurologische Störungen haben. Oft haben diese auch mit Alterungsprozessen zu tun. Diese Menschen haben zum Beispiel Schwierigkeiten mit der Sprache, mit der Organisation von Gedanken, oder Orientierungsschwierigkeiten. Solche Störungen erschweren natürlich das Interagieren mit Anderen: Man wird nicht für voll genommen und bekommt auch keine positiven Rückmeldungen von Anderen. Die Frage hier ist: Wie können digitale Technologien bei der Diagnose und bei der Rehabilitation helfen, oder überhaupt das alltägliche Leben erleichtern?

Man kann zum Beispiel mit Computerprogrammen das Sprechen trainieren. Man kann mit sozialen Robotern lernen und üben, wie man sich sozial verhält. Soziale Roboter können insbesondere da, wo das gleiche tausendmal mit einem Patienten wiederholt werden soll, eine tolle Unterstützung bei der Beschäftigung und Therapierung anbieten. Menschliche Therapeuten und Therapeutinnen können sie natürlich nicht ersetzen, soziale Roboter sind ein Werkzeug, nicht der Handwerker.

Ein anderes Beispiel: Für manche Menschen ist die Navigation im Raum schwierig, also man vergisst, wo man ist, oder wie man wieder nach Hause kommt. Mit digitalen Technologien kann man immer eine Vertrauensperson erreichen, oder von dieser lokalisiert werden und die lotst einen wieder nach Hause zurück.

 

Diese Technologien helfen also Personen mit neurologischen Störungen in der physischen Realität und in Interaktion mit anderen zu leben.

 

Richtig, das ist das Ziel. Wichtig ist bei erfolgreichen neuropsychologischen Rehabilitation, Beschwerden hierarchisch anzugehen: Grundprobleme müssen zuerst gelöst werden. Das heißt, dass Stimmungsregulation und allgemeine Aufmerksamkeit zuerst "funktionieren" müssen, bevor die spezifischere kognitive Rehabilitation, also das Wieder-Erlernen von komplizierteren Denkfähigkeiten wie sprachliche Interaktion oder Rechnen, sinnvoll ist. Neurofeedback kann grundsätzlich hilfreich sein, um zu lernen, die eigenen Stimmung zu regulieren, oder die Aufmerksamkeit zu trainieren, zum Beispiel nach einem Schlaganfall oder bei Multipler Sklerose. Dazu forsche ich schon seit vielen Jahren. Klinische Evidenz für die Wirksamkeit von Neurofeedback gibt es allerdings wirklich nur bei spezifischen Störungen, und über Nebenwirkungen gibt es so gut wie keine Forschung. Daher ist Vorsicht geboten.

Digitale Technologien können hier aber noch auf eine zweite Weise helfen. Mit spezifischen Sensoren kann man sehr gut die Beweglichkeit oder Koordination von alltäglichen Bewegungen messen. Durch so genaue Informationen kann man dann wieder die für einen Menschen genau passenden Therapien besser herausfinden. Beides - digitale Technologien um die Diagnostik zu verbessern, und digitale Technologien um die Rehabilitation zu unterstützen - sind aktuelle Forschungsfragen die mich sehr interessieren.

 

Interessant ist für mich hier erstens, Deine Darstellung einer Hierarchie, nämlich dass die Grundstimmung und die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit zuerst, als Grundlage sozusagen, gegeben sein muss. Das bringt mich, zweitens, zurück zu einem Thema das wir vorher im Gespräch hatten: In der Rehabilitation haben also digitale Technologien den Zweck und auch die Nützlichkeit, Menschen mit neurologischen Störungen zu befähigen, "im" Leben zu sein, in der physischen Welt zu agieren und zu interagieren. Dem gegenüber steht die massive Digitalisierung von menschlicher Interaktion, die aber genau diese Aufmerksamkeit, und vielleicht auch die Grundstimmung, stört.

 

Tatsächlich ist es auch im Kontext der Digitalisierung eine Frage der Dosierung und der spezifischen Anwendung einer digitalen Technologie, die der Unterschied ausmacht. Für das gesunde Gehirn ist ein Smartphone, das nie abgelegt wird, ein Problem. Gleichzeitig können aber digitale Technologien fehlende oder zu verbessernden geistigen Funktionen im Rahmen der neuropsychologischen Rehabilitation ersetzen bzw. fördern.

 

Zum Abschluss noch folgende Frage: Welches Buch kannst Du uns zum Weiterlesen empfehlen?

 

Da hätte ich eines das sehr gut zu diesem Gespräch passt: Adam Gazzaley, und Larry D. Rosen (2017): "The distracted mind. Ancient brains in a high-tech world". MIT Press. ISBN: 9780262034944. Dieses Buch empfehle ich, weil führende Neurowissenschaftler in einer verständlichen Weise die Herausforderungen im Umgang mit allgegenwärtigen digitalen Technologien beschreiben.

 

Ein zweites Buch möchte ich von Barbara Wilson empfehlen. Sie betreibt hochtechnologische Rehabilitation, seit den 90er Jahren und ist hier absolute Pionierin. Barbara A. Wilson, Fergus Gracey, Jonathan J. Evans, und Andrew Bateman (2010): "Neuropsychological Rehabilitation: Theory, Models, Therapy and Outcome". Cambridge: Cambridge University Press. ISBN: 9780511581083.

 

 

Danke für dieses interessante Gespräch!

 

Obige Gesprächszusammenfassung verfasst und redigiert haben: Viktoria Pammer-Schindler, Mia Bangerl und Guilherme Wood.