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Gott will persönlichen Kontakt

Dieser Artikel ist Teil der Gesprächsreihe "Digitale Interaktion", in der Viktoria Pammer-Schindler, Mia Bangerl und Franziska Gürtl Gespräche mit Wissenschaftler*innen aus verschiedensten Disziplinen führen, zum Beispiel aus der Psychologie, Philosophie, Biologie. Dabei fragen sie nach Perspektiven, Theorien und Fragestellungen aus der jeweiligen Disziplin und dem Forschungsschwerpunkt der Gesprächspartner*innen in Bezug auf das Thema "Digitale Interaktion". Im online Standard wurde eine gekürzte Version des Gesprächs veröffentlicht. Alle Kurz- und Langformen der Gesprächsreihe sind hier gelistet.

 

Dieser Text fasst ein Gespräch mit Christian Wessely, geführt von Viktoria Pammer-Schindler und Mia Bangerl, zusammen. Christian Wessely ist Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Graz.

 

Herr Wessely, darf ich Sie zu Beginn bitten, kurz Ihren Forschungsbereich, die Fundamentaltheologie vorzustellen?

 

Ja, natürlich. Fundamentaltheologie hat, anders als man es vermuten würde, vom Wort her gerade nichts mit Fundamentalismus zu tun, sondern ist eigentlich die Immunisierung gegen Fundamentalismus. Fundamentaltheologie tastet sich an die Grundlagen des Denkens und damit auch des religiösen Denkens heran. Es ist damit die Aufgabe dieser Disziplin, die Dialogfähigkeit und die Rationalität von jedem theologischen Denken herauszustellen und es in einen Zeitkontext hineinzustellen, der sich ja jeweils ändert. Unsere Theologie von heute ist anders als die vor 500 Jahren, anders als die vor 1000 Jahren und natürlich auch anders als die Theologie zur Zeit von Jesus Christus selbst. Insofern ist auch klar, dass wir Fundamentaltheologinnen und -theologen uns auch auf Zeiterscheinungen fokussieren; zu diesen gehört auch die Medienlandschaft. Das ist konkret meine Spezialisierung. Im Bereich "Film und Theologie" arbeite ich seit etwas über 30 Jahren, im Bereich Digitalität und Theologie fast genau so lang. Seit ungefähr sechs Jahren bin ich etwas vertiefter in den Bereich Comics und Theologie. Gemeinsam mit Daria Pezzoli-Olgiati (München) und Stefanie Knauss (Villanova) gebe ich zum Beispiel das Journal for Religion, Film and Media heraus.

 

Der Ausschnitt der Digitalität ist relativ wichtig im Kontext unseres digitalisierten Zeitalters, wo wir alle zusammen ohne Medialität, mediale Vermittlung und eigene mediale Existenz in letzter Konsequenz eigentlich kaum mehr leben können. An unseren Universitäten können Sie nur mehr studieren, wenn Sie digital anschlussfähig sind. Das hat organisatorische Gründe, es hat didaktische Gründe, es hat aber auch wissenschaftliche Gründe. Unser Leben ist also vom digitalen Existieren tatsächlich untrennbar. Das ist gleichermaßen faszinierend und beängstigend, und das ist gleichzeitig für mein theologisches Denken eine Anfrage: Was heißt das für uns als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, was heißt es auch für uns als Menschen? Wir können gerade in unserer Disziplin zwischen der Anthropologie, die wir ja grundsätzlich einmal voraussetzen, damit wir überhaupt von Religion sprechen können, und dem eigentlichen Gegenstand unserer Wissenschaft im engeren Sinne, also der Theologie, nicht wirklich trennen.

 

In Ihrer Forschung taucht die Digitalität also auf zwei Arten auf: Da ist die eine Frage, wie tauchen Religion, religiöse Themen und religiöse Fragestellungen in verschiedenen Medien auf, also in Filmen, Comics, oder in anderen digitalen Welten. Andersherum ist die Fragestellung, wie tauchen wir als Menschen in diesen digitalen Welten auf, was ist unsere mediale Existenz eigentlich, und wie ist unsere menschliche und spirituelle Existenz angesichts digitaler Technologien?

 

Ja, das sind die zwei Hauptdimensionen. Es hat schon im Cyberpunk in den 1970ern angefangen, dass man überlegt hat: Was ist überhaupt religiöse Existenz oder Spiritualität, und wie wirkt sich diese Digitalisierung unserer Anthroposphäre auf diese Spiritualität aus? Mit Digitalisierung der Anthroposphäre meine ich hier die Tatsache, dass eben unser menschlicher Lebensraum in so hohem Ausmaß digitalisiert ist, dass wir ohne digitale Technologien nicht mehr leben können. Müssen wir daher Spiritualität neu verstehen? Hat Religiosität darin einen Platz, und für mich persönlich eine ganz grundlegende Frage: Sind Digitalität und die grundsätzliche Vorstellung der Existenz Gottes überhaupt vereinbar? Funktioniert das miteinander?

 

Da muss ich nachfragen: Funktioniert das miteinander?

 

Es besteht das Risiko, dass eine digitale Welt "entgöttlicht" wird. Denn wir brechen ja, indem wir radikal digitalisieren, alles auf diskrete Werte herunter und versuchen, alles so einzufangen, dass es in binärer Form beschreibbar wird. Und auch, wenn sich in ferner Zukunft die Arbeitsweise von Computern ändern sollte und wir über diese zweiwertige Logik hinausgehen, wird sich alles, was diese Sphäre betrifft, in diskreten numerischen Werten konkretisieren lassen müssen. Wenn das aber so ist, dann heißt das eigentlich, dass wir jede Idee Gottes in der digitalen Sphäre auch in dieser Form parametrisieren müssten. Dem steht schon der Begriffsgehalt des Wortes "Gott" entgegen. Das Begriffsvermögen schlechthin überschreitendes zu digitalisieren und es damit radikal einzugrenzen, ist ein Widerspruch in sich.

 

Viele Menschen fühlen sich Gott sehr nahe, wenn sie in der Natur sind, oder sonst eine sehr intensive Erfahrung haben. Traditionell waren diese Erfahrungen allerdings in der physischen Realität. Lassen sich solche Gotterfahrungen im Digitalen überhaupt machen? Kann man Gott in diesem digitalen Raum nah sein und ihn erleben?

 

Gotteserfahrungen zum Beispiel in der Natur zu machen, im physischen Leben jedenfalls, würde ich selbst eher als spirituelle Erfahrungen einordnen. Eine Gotteserfahrung im Sinn einer Epiphanie ist auch für religiöse Menschen nichts Alltägliches. Das ist die Konfrontation mit etwas ganz anderem, das lebensverändernde Kraft hat. Aus einer christlichen Tradition heraus schreibt man das dann einer Gotteserscheinung oder einem Engel zu. Aus einer nicht-christlichen Tradition wird man das anders interpretieren. Aber diese Erlebnisse sind nicht auf den christlichen Hintergrund beschränkt, sie sind nicht einmal auf den religiösen Hintergrund beschränkt, sondern können auch angesichts einer ästhetischen Erfahrung auftreten, die radikal und erkenntnis- und wesensverändernd ist. Solche Gotteserfahrungen sind keine Dauererfahrungen. Das ist nichts, was man alltäglich oder öfters mal hat. Es ist nichts, was einem regelmäßig beim Sonntagsspaziergang durch den Wald widerfährt oder beim Besteigen eines Berges, sondern das sind einschneidende Erlebnisse, die einmalig sind oder sehr selten auftreten. Die eher spirituellen Erfahrungen, also das Empfinden "hier ist es gut sein", "ich bin eins mit der Natur" oder "es ist schön, dass ich bin", diese Erlebnisse haben wir alle und öfters. Was davon hat nun Platz im digitalen Raum? Da würde ich meinen, dass gerade dieses spirituelle Alltagserleben, das wir eher mit der Natur assoziieren, in der digitalen Sphäre keinen Platz findet. Eine punktuelle Konfrontation mit etwas ganz Anderem, überraschendem, kann allerdings meiner Meinung nach schon im Digitalen auch greifen. Es ist etwas paradox, lässt sich aber meiner Meinung nach daraus erklären, dass wir als Menschen uns als Teil einer Physis, als Teil der Natur erfahren: Normalerweise schlafen wir in Betten, stehen in der Früh auf, wir essen, wir trinken, wir machen das Gegenteil, wir lieben, wir lachen, wir trauern, usw. Und deswegen sind der Sphäre, der all diese emotionalen Komponenten zugeordnet sind, auch primär diese "kleinen" Punkte der Spiritualität zuzuordnen. Aber das Außergewöhnliche, das Exzeptionelle, dasjenige, das wirklich in mein Dasein hineingreift wie ein Blitz, das denke ich, hat durchaus auch seinen Platz im digitalen Alltag. Das kann einen überfallen angesichts der unglaublichsten Erlebnisse. Meine persönlichen, bisher zwei, Erlebnisse in dieser Richtung hatte ich im ganz banalen Alltagsleben. Aus theologischer Sicht müsste ich aber sagen, dass im Wesen der Epiphanie liegt, dass sich Gott nicht vorschreiben lässt, wo er erscheint.

 

"Wo zwei oder drei in meinem Namen zusammen sind, da bin ich mitten unter ihnen." Ist das im Digitalen auch so, oder gibt es dann beim physischen Treffen eine andere Art von Energie oder göttlicher Präsenz - wie wird das diskutiert in der Theologie?

 

Ich möchte Ihnen da ein kleines Beispiel erzählen. In den ersten Corona-Lockdowns, die ja in die Oster- und später in die Weihnachtsfestzeit hineingefallen sind, da hatten wir in der Gemeinde, in der ich auch als Diakon tätig bin, natürlich damit zu kämpfen, dass plötzlich keine Gottesdienste mehr möglich waren. Also haben wir, unter Einhaltung aller Schutzmaßnahmen und mit beträchtlichem technischen Aufwand, mittels Video-Streaming Gottesdienste, Andachten, Feiern, ja sogar ein Konzert einfach übertragen. Dabei haben wir auch Feedbackmöglichkeiten für die Teilnehmer und Teilnehmerinnen eingebaut, einerseits über die Videokonferenz direkt, und andererseits über einen Text-Chat. Dabei hat sich gezeigt: Die Liturgie funktioniert nur mit wahrhaftiger Präsenz vor Ort, also wo die zwei oder drei, wie Sie zitiert haben, physisch zusammen sind. Die Repräsentation durch ein Bild, durch eine Textzeile und durch eventuell ein akustisches Feedback kann Personalität nicht ersetzen. Die Liturgie ist ja kein Schauspiel. Liturgie wird nicht vom Priester oder von wenigen Personen für eine größere Gruppe "aufgeführt". Das kann natürlich auch im Physischen so passieren -- nur funktioniert Liturgie dann auch nicht. überall, wo es so abläuft, dass der Priester - ich bleibe hier im katholischen Kontext - da vorne einfach seine Sache macht und die Gemeinde zwar anwesend ist und an den richtigen Stellen antwortet, sich aber eigentlich nur "bespielen" lässt,, dort scheitert das. Liturgie funktioniert nur, wenn sie ein gemeinsames gottesdienstliches Feiern ist. Dabei entsteht Synchronität; eine besondere Form von Resonanz. Und dafür ist, denke ich, persönliche Präsenz tatsächlich notwendig. Das ist meine theologische und praktische Einschätzung.

 

Das Thema "Synchronität" stößt bei mir sozusagen auch auf Resonanz. Ich habe vor kurzem "Waking, Dreaming, Being" von Evan Thompson gelesen, in dem er darauf hinweist, dass bestimmte meditative Praktiken Synchronität im Gehirn erzeugen, dahingehend dass Synapsen in unterschiedlichen, durchaus auch entferntere Gehirnregionen, synchron feuern. Ich kenne auch Literatur, die nachweist, dass neuronale Synchronität zwischen sehr eng verbundenen und interagierenden Personen vorkommt. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass derartige Synchronität zwischenmenschlich aber nur in physischer Präsenz entsteht.

 

Physisches Zusammensein ist natürlich keine Garantie dafür, dass es funktioniert. Ich habe schon genauso gut besuchte Gottesdienste erlebt, in denen die Formen erfüllt wurden, aber nicht mehr. Aber ich habe auch schon erlebt, dass es sozusagen an einem Punkt "Klick macht". Wenn dann die ganze vollbesetzte Kirche gemeinsam aufsteht und das "Vater Unser" spricht, dann kann genau ein Epiphanie-Moment eintreten. Das ist, glaube ich, nicht ein Problem dessen, dass eben heutzutage vielleicht einfach unsere digitalen Werkzeuge noch zu schlecht sind, sondern das ist ein prinzipielles Problem. Die derzeit dominierende Weltinterpretation ist eine quantitative im Sinne der Idee, dass jedes Problem, das wir jetzt noch haben, durch quantitatives Steigern bestehender Ansätze lösbar ist. Das ist aber meiner Meinung nach eine fehlerhafte Weltinterpretation. Was ich damit meine: Ich sehe Sie im Moment in unserem Videochat nur als zweidimensionales Bild mit einem verschwommenen Hintergrund. Das ist sichtbar defizitär gegenüber dem persönlichen Kontakt. Wenn man dieses Problem quantitativ betrachtet, könnte man meinen, dass in zehn Jahren, mit größerer Bandbreite, schnelleren Prozessoren, neuen Interfaces etc. dieser Zustand behoben sein wird. Ich glaube aber, es ist ein qualitatives Problem. Es gibt unausweichliche Einschränkungen in der digitalen Kommunikation, nämlich dass Sie und ich immer reduziert dargestellt werden, durch vorgegebene Farbdarstellung, durch Grenzen der Pixelauflösung oder der Frequenzbandbreite im Audiobereich. Das macht einen qualitativen Unterschied im Vergleich zur persönlichen Interaktion, der prinzipbedingt nicht überwindbar ist. Dazu lese ich gerade ein sehr interessantes Buch von Anton Zeilinger, namens "Einsteins Schleier: Die neue Welt der Quantenphysik". Diese Grenze wird darin, natürlich eher quantenphysikalisch, sehr schön beschrieben.

 

Eine ähnliche Frage der Art "quantitative versus qualitative Unterschiede" im Bereich der Digitalität ist natürlich diejenige der Intelligenz: Muss Künstliche Intelligenz nun einfach nur quantitativ komplexer werden, damit sie irgendwann von Quantität auf Qualität umschaltet? Zu diesem Themenkomplex kann ich Thomas Nagels "Geist und Kosmos" empfehlen, in dem Thomas Nagel aufweist, dass zwar Denken und Handeln einander bedingen, es aber keineswegs klar ist, wo Denken denn überhaupt entsteht. Für die Künstliche Intelligenz fragt sich damit zum Beispiel, ob sie tatsächlich kreativ sein kann, also ob sie komponieren oder Emotionen empfinden kann. Damit meine ich nicht "eine Komposition simulieren" (also Töne nach Regeln zusammenstellen), sondern in dem Sinn, dass sie Emotionalität entwickelt und diese in Musik ausdrücken kann.

 

Für uns Menschen ist Emotionalität konstitutiv, daher ist das Thema auch hinsichtlich einer Künstlichen Intelligenz eine entscheidende Frage. Wird sie je beantwortbar sein? Ich sehe hier zwei unterschiedliche Möglichkeiten. Die eine ist, dass sie tatsächlich Emotionen entwickelt, sodass wir etwa erkennen "der Computer hat jetzt Mitleid". Nicht, weil wir ihm irgendwann einmal durch Algorithmen beigebracht hätten, was ein Mensch unter Mitleid versteht und unter welchen Umständen das aufzutreten hat, sondern weil der Computer, der zum Beispiel sieht, dass einem anderen Computer der Strom ausgeht, angesichts dessen von Mitleid übermannt wird. Klarerweise wären diese Emotionen dennoch eigener Art, weil ja eine KI ganz anders funktioniert als ein Mensch. Dennoch könnte der Computer dann in diesem Sinn künstlerisch tätig sein und zum Beispiel darüber komponieren. Ich zweifle allerdings daran, dass wir die so entstehenden Werke "verstehen" würden, gerade weil eine "Computer-Emotionalität" sich radikal von unserer unterscheiden würde.

 

Die andere Möglichkeit wäre, dass die KI einfach lernt, menschliche Emotionen zu simulieren. Wie verhält sich die Entität "Mensch" unter bestimmten Bedingungen, und wie äußert sich dieses Verhalten? Bei der Konstruktion humanoider Roboter ist das der Ansatz der Wahl. Aber dann simuliert die KI eben nur, und kann auch das Komponieren - um bei diesem Beispiel zu bleiben - nur simulieren. Wir müssen also entweder diesen qualitativen Unterschied einfach anerkennen, diesen uneinholbaren ontologischen Unterschied, oder wir täuschen uns über diese Differenz hinweg und leben mit der (billigen) Imitation.

 

Erstens ist in alles, was künstliche Intelligenzen tun, extrem viel menschliche Intelligenz während des "Engineering" hineingeflossen, da ist ja überhaupt schon die Frage wie viel "eigene" künstliche Intelligenz denn da drinnen steckt. Zweitens, selbst wenn die künstliche Intelligenz so etwas wie eine eigene Intelligenz hat, würde ich auch argumentieren, dass eine Künstliche Intelligenz auf eine ganz eigene Art intelligent ist, sich auf eine ganz eigene Art Ziele setzt (wenn überhaupt) und wenn, dann nur auf eine ganz eigene Art Emotionen entwickeln könnte. Bei diesen wäre überhaupt erst zu klären, in welchem Sinn das überhaupt noch das gleiche Konzept ist. Die Grundlage dieser Argumentation ist, dass wir als Menschen schon einmal physisch ganz anders funktionieren als Computer, und dann auch noch in einer völlig anderen Welt leben und mit dieser interagieren. Und wir werden so wie wir sind auch durch unsere Interaktion mit der Umwelt - entsprechend dem Grundgedanken von Enaktivismus. Unsere Umwelt ist aber grundlegend eine andere als die, in der künstliche Intelligenzen "leben" und interagieren. Das heißt, selbst wenn unser Ausgangspunkt völlig gleich wäre, was er ja nicht ist, müssen also künstliche und menschliche "Wesen" ganz anders werden durch die völlig verschiedenen Welten, in denen sie "werden", auch wenn sich diese Welten überschneiden und gegenseitig beeinflussen.

 

Das führt mich zu einer anderen Perspektive auf digitale Mensch-zu-Mensch Interaktion zurück: Wo ist man denn eigentlich "im" digitalen Raum? So ganz nur im eigenen Kopf ist man da nicht, aber so ganz in der physischen Realität auch nicht. Eigentlich ist man im Digitalen immer auch an der Schwelle zu sehr vielen anderen digitalen "Orten", die man einfach anklicken kann. Aber wenn man davon ausgeht, dass wir jetzt miteinander kommunizieren, haben wir es dennoch geschafft, durch das digitale Medium einen gemeinsamen Erlebnisraum zu schaffen. Was ist nötig, damit dieser gut oder überhaupt funktioniert?

 

Im Digitalen ist ein enormes Maß an Vertrauen notwendig. In der physischen Umgebung habe ich schon aufgrund der Rahmenbedingungen die Sicherheit, dass Sie und Frau Bangerl zum Beispiel tatsächlich präsent sind. Ich nehme Sie als ganzen Menschen wahr. Im digitalen habe ich nur ein zweidimensionales Abbild von Ihnen, und von Frau Bangerl gar keines. (Anm.: In dem per Videochat geführten Interview war diese Kamera ausgeschaltet) Ich weiß gar nicht, ob sie immer da ist. Darauf muss ich vertrauen, und dieses für die Kommunikation so wesentliche Vertrauen ist viel höher eingefordert als in physischen Gesprächen.

 

In einem physischen Gespräch habe ich mehr Sicherheit darüber, dass Sie da sind, wer Sie sind, wie Sie sind, wie es Ihnen gerade geht, etc.

 

Und ich muss darauf vertrauen, dass Sie sich tatsächlich auf die Kommunikation konzentrieren und auf nichts anders. Das ist natürlich in diesem Gespräch kein Problem. In einer Vortragssituation ist das aber anders, mit zum Beispiel 25 Studierenden in einem Seminar. Die digitale Interaktion kann aber sehr gut funktionieren, wenn es eben rein um die Kommunikation geht, also wenn man sich kennt, und dann eben zwischendurch auch digital kommuniziert.

 

Ich denke jetzt an Gamer-Communities, die zum Beispiel in World of Warcraft gemeinsam auf Raids gehen. Sind das Freundschaften, wenn man sich nie im physischen Leben trifft?

 

Die Frage ist, ob Sie im System bleiben. Im Beispiel von einer Gamer-Community, das könnte jetzt World of Warcraft oder ein beliebiges anderes Multi-User-Spiel sein, dann kann das großartig funktionieren, solange Sie im System bleiben, und das kann - systemimmanent sozusagen - natürlich eine Freundschaft sein. Die Frage ist aber, kann man das aus diesem digitalen Raum in den analogen übertragen? Die Physis ist üblicherweise ein größerer Teil unserer Existenz, und das Digitale nur ein kleiner Ausschnitt. Nun braucht es eine Art Bewährungsdimension. Sind die Menschen, mit denen ich meine Zeit in World of Warcraft verbringe, die, zu denen ich gehen würde, wenn ich existenzielle Sorgen habe? Sind das diejenigen, die sich umgekehrt mir anvertrauen, wenn bei ihnen alles den Bach hinuntergeht? Das ist sicher vorstellbar, aber ich würde meinen, nicht der Regelfall.

 

Vor 400 Jahren hat man vielleicht Briefe geschrieben, da hatte man bei einer Brieffreundschaft einen zeitlich sehr entzerrten gemeinsamen Erlebnisraum. Bis Sie den Brief bekommen habe, ist alles, worüber ich geschrieben habe, schon mehrere Wochen lang her.

 

Jeder einzelne Brief war dadurch ein großartiges Erlebnis. Nicht nur wegen der Haptik und des gespannten Wartens darauf, sondern wegen der Einzigartigkeit und der Seltenheit des Erlebnisses. Wenn ich bedenke, wie viele Nachrichten ich heute an einem normalen Arbeitstag abwickle, und zwar einfach nur so, und ohne großartig darüber nachzudenken. Hier verändern die technischen Möglichkeiten unser Verhalten in geradezu paradoxem Ausmaß.

 

Ein Beispiel: Fotografie. Ich habe eine Zeit lang mit einer sehr alten Balgkamera fotografiert, mit richtig großen Filmrollen, weil die so großartige Bilder gemacht hat. Da hatten auf einem Film acht Bilder Platz. Diese acht Bilder habe ich natürlich sehr sorgfältig ausgewählt, unter anderem auch, weil die Ausarbeitung nicht billig war. Ich habe mich dann immer sehr gefreut, wenn unter den wenigen Aufnahmen, die ich z.B. von einem besonders schönen Sonnenuntergang gemacht habe, zwei waren, die wirklich gut geworden sind. Diese habe ich dann in ein Album eingeklebt. Heute habe ich eine Kamera auf meinem Mobiltelefon, die wirklich toll ist. Die macht bessere Bilder als eine digitale Profi-Kamera von Canon von vor zehn Jahren. Jetzt mache ich von einem Sonnenuntergang 15 Bilder und verwende wahrscheinlich kein einziges davon. Ich habe auf dem Mobiltelefon geschätzt 3000 Fotos. Ich habe so viele darauf, dass ich im Zweifelsfall sehr lange brauche, bis ich ein bestimmtes Foto finde - was mit dazu führt, dass ich die Bilder kaum ansehe. Das ist ein gewaltiger Umschlag der Qualität in Quantität.

 

Vor meinem Hintergrund würde ich das als Versuch sehen, den Sonnenuntergang oder eine Wanderung zu repräsentieren. Die hundert digitalen Bilder sollten diese Repräsentation leisten. Die Tendenz geht nun dahin zu sagen: Je mehr Daten, desto besser. Und das Kuratieren der Daten, die tatsächliche Arbeit der Repräsentation, die ja darin besteht, auch eine Auswahl zu treffen, eben zu Kuratieren, vielleicht auch nachzubearbeiten, auf später zu verschieben. Die Bilder sind tatsächlich erst einmal nur Daten. Sie sind weder die Wirklichkeit noch mein persönliches Erlebnis. Dadurch, dass ich aber in die Datenerhebung, also in das Erstellen der einzelnen Fotos, so wenig Aufmerksamkeit gelegt habe, würde ich vermuten, dass an dem einzelnen Foto weniger Erinnerung hängt, und gerade die vielen Fotos eher schlechter meine Erinnerung an das Erlebnis triggern können. Davon einmal ganz abgesehen, dass ich möglicherweise mehr fotografiert als erlebt habe.

 

Mein geschätzter und leider inzwischen verstorbener Kollege Franz Grabner hatte bei uns einen Lehrauftrag zum Thema "Film und Theologie". Damals hatten wir noch VHS-Videorekorder. Irgendwann haben wir uns darüber unterhalten, dass wir wahnsinnig viele Videokassetten mit Aufnahmen von Fernsehsendungen haben. Franz hat da den Gedanken geäußert, dass wir in der Regel viel mehr Sendungen aufnehmen als wir Zeit haben, anzuschauen. Wir haben zum Beispiel hundert Sendungen aufgenommen, schauen aber vielleicht - wenn überhaupt . zehn davon an. Es schiene ihm also, meinte Franz, dass wir diese Geräte die Sendungen stellvertretend für uns anschauen lassen, damit wir sozusagen das Gefühl haben, wir hätten es "symbolisch" gesehen, wir haben zumindest nichts verpasst.

 

Ich könnte es mir jederzeit anschauen, wenn ich wollte, auch wenn ich nicht dazukommen.

 

Genau, aber ich habe es delegiert. Und das ist jetzt ein Bindeglied in Richtung Theologie. Ich denke, dass sich damit gerade bei dieser Idee der Sammlung von Fotos, und in weiterer Folge bei der Idee der Selbstrepräsentation in den sozialen Medien massiv unser Problem mit der Vergänglichkeit äußert. In Wahrheit ist das aber eine religiöse Frage, und wir können uns nicht durch Technik über die Vergänglichkeit hinwegretten, oder darüber, dass unser Leben grundsätzlich zu kurz ist, um die Welt zu erleben. Dieses Begehren nach Mehr, das in uns grundsätzlich als Menschen angelegt ist, ist in einer sehr säkulären Gesellschaft natürlich für den einzelnen nicht-religiösen Menschen so handhabbar; ob es mir hilft, diese Kontingenz zu bewältigen, bezweifle ich sehr.

 

Wenn ich religiös verankert bin, sehe ich zwar, ich bin ein begrenztes Wesen, aber ich kann Vertrauen haben in eine Transzendenz: Ich erfahre mich als aufgehobenes Wesen in etwas, das so radikal größer ist als ich, dass ich mich, um das bildlich zu sagen, in dessen Hand fallen lassen kann. Wenn ich diese Option nicht habe, habe ich nur noch zwei Möglichkeiten, nämlich erstens, mich radikal abzulenken und mir einfach die Gedanken nicht zu machen - weil die sehr ungemütlich sind, wie Sie sicher wissen. Die zweite Möglichkeit ist: ich schaffe mir so viele Repräsentationen, dass ich das Gefühl habe, dass ich unabhängig von meiner eigenen physischen Existenz auch nach meinem Tod noch gegenwärtig sein kann.

 

Um solche existenziellen Fragen bearbeiten zu können, brauche ich auf alle Fälle eigentlich die Unmittelbarkeit des anderen, der mir zusagt, in diesem Moment, in seiner ganzen physischen Präsenz: Ich nehme dich ernst, ich nehme dich an. Das ist das, was unmittelbar hilft. Als zweitbeste Möglichkeit, wenn es nicht anders geht, kann man das übel der medialen Vermittlung, also digitale Kommunikation, in Kauf nehmen. Die schlechteste Möglichkeit wäre dann die, dass man sich nur noch auf ein nicht-personales Gegenüber einlässt und auf direktes menschliches In-Kontakt-Treten verzichtet.

 

Danke sehr für dieses interessante Gespräch!

 

Abschließender Kommentar, im Schriftlichen dazugefügt: üblicherweise fragen wir am Ende nach Buchempfehlungen. Christian Wessely hat netterweise schon direkt im Gespräch mehrere Bücher empfohlen, die wir hier noch einmal zusammenfassen:

 

Anton Zeilinger (2003): Einsteins Schleier: Die neue Welt der Quantenphysik. C.H.Beck Verlag, München.

Thomas Nagel (2016): Mind and Cosmos. Why the Materialist Neo-Darwinian Conception of Nature is Almost Certainly False. Oxford University Press, Oxford.

 

Obige Gesprächszusammenfassung verfasst und redigiert haben: Viktoria Pammer-Schindler, Mia Bangerl, und Christian Wessely